Der sprachsystematisch-sprachtherapeutische Lese-Rechtschreibaufbau nach Reuter-Liehr
Carola Reuter-Liehr vereint in ihrem Ansatz Konzepte und Methoden zu einer evidenz-basierten Systematik der deutschen Sprache, die den Lernprozess des Lese-Schreibaufbaus als entwicklungsorientierte und strategiegeleitete Handlungsabfolge versteht. Im Mittelpunkt stehen in ihrem Konzept die Lerner, die beim Lesen und Schreiben stufenweise immer größere Autonomie erlangen, indem ihre aktive Sprachwahrnehmung gestärkt wird und sie ihren Lese-Schreib-Prozess mittels Strategien und Selbststeuerung auf der jeweiligen Entwicklungsstufe eigenverantwortlich bestimmen. Erst nachdem die jeweilige Stufe automatisiert und gesichert ist, kann an diese anknüpfend der Entwicklungsprozess des Lese-Schreibaufbaus fortgesetzt werden.
Reuter-Liehr versteht den Aufbau der Sprachsystematik nach pädagogisch-didaktischen Prinzipien, die dem Prozess der Sprachvermittlung anhand von Strategien Kontinuität und Stabilität verleihen. Das Grundprinzip des „Erfolgs von Anfang an“ sichert die Lernermotivation; der Prozess des Sprachaufbaus kann bis zum Schluss durchgehalten werden.
Da die Verschriftlichung lauttreuer Worte Schreibanfängern leichter fällt, wird zunächst nur lautgetreues Wort- und Textmaterial eingesetzt und dem Grundprinzip „vom Leichten zum Schwierigeren“ gefolgt. Unter lauttreue Worte fasst Reuter-Liehr die sogenannten Mitsprechwörter, die mittels der phonemischen Strategie sofort korrekt verschriftet werden können. Lauttreue ist nach diesem Verständnis kein Merkmal von Buchstaben, sondern bedeutet, dass alle Buchstaben innerhalb eines Wortes durch die Silbengliederung mitsprechbar, d.h. hörbar sind.
Darüber hinaus erhält die Häufigkeit der Verschriftung eines Lautes in der deutschen Schriftsprache eine zentrale Bedeutung sowie die Stellung eines Buchstabens innerhalb einer Silbe. Somit wird ein weiteres Grundprinzip – „Vom Häufigen zum Seltenen“ – beachtet.
Der sprachsystematische Aufbau gliedert sich in einen 6-stufigen Phonembereich sowie einen ebenfalls 6-stufigen Regelbereich. Daran schließt sich ein wesentlich kürzeres Speichertraining an.
Die ersten beiden Phonemstufen bilden das Elementartraining, in dem neben den Basisgraphemen mit den sie unterstützenden Lautgebärden auch das Rhythmische Syllabieren als methodische Grundlage zur Aneignung der Mitsprechstrategie eingeführt wird. Das Rhythmische Syllabieren geht auf Heide Buschmann zurück und stärkt das sprachrhythmische Gefühl, das sowohl für das korrekte Schreiben mit Hilfe der Pilotsprache und der Mitsprechstrategie, als auch für die flüssige Lesegenauigkeit hilfreich ist.
Ist der Phonemstufenbereich gesichert abgeschlossen, können die Lerner lauttreue Worte selbstgesteuert verschriften, ihr Tun beim Lernen verbalisieren und den Lernprozess deshalb steuern. Sie haben die Leseprinzipien erfasst, kennen bereits erste Regelhaftigkeiten der deutschen Sprache (ie, ß, Großschreibung konkreter Nomen), besitzen ein sprachrhythmisches Gefühl für Deutsch und haben viele korrekte Sprechmuster gespeichert.
Im Regelbereich wird die Mitsprechstrategie durch die Begründungsstrategie ergänzt. Ebenso tritt der inhaltliche Aspekt der Sprache immer mehr in den Vordergrund. Wörter werden auf diesen Stufen, die ebenfalls dem Grundsatz „vom Einfachen zu Komplexeren“ folgen, in ihre Morpheme gegliedert, die als Bedeutungseinheiten eingeführt werden. Mittels der Morphemsegmentierung werden von der Lauttreue abweichende Schreibweisen verdeutlicht. Dazu werden nach und nach Ableitungsstrategien eingeführt.
Ausnahmeschreibungen, Abweichungen vom Regelhaften sowie die Dehnung des Vokals sind Inhalt des letzten Bereichs und werden unter Hilfenahme der Morphemsegmentierung erklärt.
Aus dem systematischen Sprechaufbau nehmen wir diese drei Strategien mit:
- die Mitsprechstrategie (methodisch unterstützt vom Rhythmischen Syllabieren, Lautgebärden),
- die Begründungsstrategie,
- die Ableitungsstrategien (einfach als Morphemsegmentierung und erweitert die orthographisch/morphemische Strategie).
Die deutsche Schriftsprache
kann auf der Wortebene bei bewusst gesteuerter Artikulation (bei Einsatz der sogenannten Pilotsprache) zu ca. 60% als lautgetreu bzw. mitsprechbar definiert werden.
Eine Untersuchung des niedersächsischen Grundwortschatzes ergab bei 1419 Wörtern 858 lautgetreue Wörter auf 6 Phonemstufen, wobei die meisten Wörter in die Phonemstufen 2 und 4 fallen und die wenigsten in die Phonemstufen 3, 5 und 6 (Zahlen bzw. Prozente gefunden bei Reuter-Liehr, unveröffentlicht, 2010).
aus: LETHE – Deutsch lernen mit Konzept, Seiferth & Afshar, 2016: 58ff
Zusammenfassende Notizen zu LESE-RECHTSCHREIB-Aufbau nach Reuter-Liehr:
- Die nachhaltige Wirksamkeit des Konzepts wurde in mehrfachen in evidenzbasierten Studien bestätigt.
- Die individuelle Therapieplanung erfolgt auf der Basis einer eingehenden Diagnostik.
- Es werden Lese-Rechtschreib-Strategien zur Kompensation der LRS vermittelt.
- Der sprachsystematische Aufbau des Konzepts sieht eine Orientierung an der Entwicklung des Schriftspracherwerbs vor: Von leichten und häufigen Phänomenen beim Lesen und Schreiben zum steigenden Schwierigkeitsgrad und zur höheren Komplexität im Wort- und Textmaterial.
- Der Kompensationsprozess wird konsequent durch den Strategieaufbau beim Übergang in den Regelbereich erweitert.
- Der Aufbau ist systematisch und stärkt die Lesekompetenz.
- Die mit dem Ziel der Akzeptanz und des eigenverantwortlichen Umgangs mit der LRS und der Lernerautonomie beim Lesen und Schreiben angewandten Maßnahmen orientieren sich an der Verhaltenstherapie.
- Das Lernen erfolgt handlungsorientiert und die Ansätze in der sprachstrukturierenden Methodik sind sensomotorisch ausgerichtet.
- Mit Schule, Ärzten und anderen therapeutischen Institutionen wird zusammengearbeitet und sich ausgetauscht.
- Der Therapieerfolg wird mithilfe von Erfolgskontrollen dokumentiert.
- Das Behandlungsvorgehen ist für alle Beteiligten transparent.
- Therapien und Trainings werden in Einzelstunden oder in Kleinstgruppen (bei gegebenem übereinstimmenden Diagnosebild) durchgeführt.